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“Die Polizei Hamburg hat die Gewaltorgie losgetreten”

Thomas Wüppesahl ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten (Hamburger Signal). Anfang der 90er – „als die Grünen noch grün waren“ – war er innen-politischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion.

Das Interview führte Alexander Hummel.

Critica: Aus einer kleinen Bundestagsanfrage der LINKEN geht hervor, dass deutlich mehr PolizistInnen als ursprünglich angegeben beim G20-Einsatz beteiligt waren: über 31.000 PolizistInnen, das heißt 50% mehr als bekannt. Warum wurde die tatsächliche Zahl zuvor geheim gehalten?

Wüppesahl: Diese Tatsache, dass die Einsatzleitung, aber auch die politische Führung in Hamburg sich um die 10.000 PolizeibeamtInnen vertut, ist leider normal. Das gehört inzwischen zur klassischen Desinformationspolitik und hat auch taktische Gesichtspunkte. Denn man möchte sich selbst in der Wahrnehmung kleiner und das Gegenüber groß machen. Zudem zeigt es, dass die Polizei hier völlig überfordert war. Schon die ursprüngliche Zahl von 21.000 eingesetzten PolizeibeamtInnen ist deutscher Rekord seit 1949. Wir wissen jetzt, dass es nicht eine zahlenmäßige militärische Division war, was ungefähr 21.000 SoldatInnen entspräche, sondern es sind eineinhalb Divisionen gewesen und sie haben es trotzdem nicht bewerkstelligt. Derartige Desinformationen in die Öffentlichkeit zu setzen, zieht sich durch die gesamten drei Tage. Es wurde permanent die Unwahrheit gesagt, häufig auch ganz bewusst gelogen. Gleichzeitig sagten Einsatzleitung und Polizeipräsident, dass ihnen genug BeamtInnen zur Verfügung standen: „Daran habe es nicht gelegen.“ – Es fehlte einfach das fachliche Können.

Critica: Warum sprechen Sie davon, dass diese Desinformationspolitik mittlerweile „klassisch“ ist?

Wüppesahl: Denken Sie an die Demonstration Ende 2013 vor der Roten Flora in Hamburg, wo auch seitens der Polizei falsche Dinge in die Welt gesetzt wurden. Auch hier wollte man die Demonstration, ähnlich wie bei der Demonstration „Welcome to Hell“ am 6. Juli 2017, nicht laufen lassen. Das wird aber nach außen anders dargestellt, weil es aufgrund von verfassungs- und versammlungsrechtlichen Vorgaben natürlich nicht geht. Die Polizeispitze desinformiert, indem sie vorgibt, rechtlich anständig zu arbeiten und tatsächlich bricht sie das Recht wie Gesetze; das wird noch mehr oder weniger geschickt ummantelt, aber so ist es. Im Grunde wird wie bei einer Bande oder der organisierten Kriminalität agiert. Denken Sie dann auch an den vorgetäuschten Überfall auf die Davidswache ebenfalls Ende 2013, auch dort wurden in Serie – sogar schriftlich – durch die Pressestelle der Polizei falsche Tatsachenbehauptungen in die Welt gesetzt und der gesamte Medienpulk ist erstmal auf den Unsinn draufgesprungen und hat ihn weiterverbreitet.

Der tiefere Grund ist, wenn sie irgendwo im Sport unterwegs sind oder auch bei richtigen Gefechten, dann wird der Gegner überhöht dargestellt, damit man die eigene Leistung entsprechend positiv darstellen kann. Man will darstellen wie heroisch man verloren oder eben auch gewonnen hat und darüber auch so eine Art Hilflosigkeit suggerieren, den Mitleidseffekt mitnehmen, nonverbal: „Es ging halt nicht anders.“ Ein unausgesprochen übergesetzlicher Notstand. So ist das hier auch. Denken Sie ferner an die falschen Zahlen zu den Autonomen: dass man 8000 Autonome europaweit in Hamburg erwartete, tatsächlich waren es maximal zweieinhalbtausend. Das war also eine Polizeilage, die wir in Hamburg seit den 80er Jahren immer wieder hatten – also nichts Besonderes. Außer dass der gesamte Einsatzanlass sehr hochgepoppt war, dadurch dass es sich um den G20-Gipfel handelt.

critica: Wie bewerten Sie denn die Gewalt und Aggression beim G20-Gipfel in Hamburg im Allgemeinen.

Wüppesahl: Das ist offensichtlich. Die Gewalt ging von beiden Seiten aus. Es ist klar, dass  bestimmte Menschen, von wo auch immer – aus Spanien und Griechenland etwa – angereist sind, um sich hier auszutoben. Genau so kam es aber seitens der Polizei zu zahllosen Übergriffen, die ja auch aus allen Bundesländern angereist kam und einige tobten sich genauso offenkundig aus. Hoheitliches Agieren sähe anders aus. Beide Seiten uniformiert, vermummt und mit klarem Feindbild.

Critica: Bisher gibt es 100 Strafermittlungsverfahren.

Wüppesahl: Diese Zahl ist lächerlich. Das drückt ja nur das Hellfeld aus. Wir wissen aus kriminologischen Studien, dass in der Bundesrepublik Deutschland das Dunkelfeld jährlich 95% umfasst, also Faktor 20, d.h. die rund sechs Millionen Straftaten, die jährlich angezeigt werden, können Sie mal 20 nehmen, also sind es 120 Millionen. Das ist die annähernd echte Zahl der in der Bundesrepublik pro Kalenderjahr begangenen Straftaten. Das dürfen Sie hier locker extrapolieren. Es handelt sich also nicht um 100 Straftaten durch PolizeibeamtInnen, sondern eher um 2000, wenn nicht noch mehr. Faszinierend ist, dass nicht eines dieser gegenüber PolizeibeamtInnen laufenden Strafermittlungsverfahren durch einen Kollegen initiiert wurde, obwohl nach der Strafverfahrensordnung jeder Polizist, sobald er Kenntnis von einer Straftat hat, sie selbst verfolgen und anzeigen müsste. Allein diese Tatsache, dass quasi sämtliche Verfahren begonnen wurden, weil sie von außen angezeigt wurden oder weil man aufgrund der Videos bei der Ermittlungsstelle in der Innenbehörde bestimmte Ermittlungsansätze hatte, zeigt die Ruchlosigkeit, also wie wenig Recht und Gesetz durch die eingesetzte Polizei selbst beachtet werden.

Die Aggression und Gewalt ging von beiden Seiten aus. Die große Initialzündung war aber natürlich das Zerschlagen der Demonstration am Fischmarkt am Donnerstagabend durch die Polizei. Das war der subjektiv-psychologische Freibrief für einige der angereisten potentiellen Gewalttäter zurückzuschlagen. Mit der Zerschlagung der Demonstration hat die Polizei Hamburg mit den gesamten unterstützenden Kräften aus der Bundesrepublik die Gewaltorgie, die wir für bundesdeutsche Verhältnisse in bemerkenswerter Ausprägung erlebt haben, losgetreten.

Critica: Innensenator Grote hat jetzt eine sehr ernsthafte Aufarbeitung der Vorgänge bei G20 versprochen. Wird es dazu kommen?

Wüppesahl: Nein, das können Sie vergessen. Das ist genauso Unsinn wie die ganzen anderen Sonntagsreden vor G20: Man hätte die Sicherheitslage in Griff und man handle nach Recht und Gesetz, „Die Hanseaten werden nach dem Gipfel noch gelassener sein also vorher schon“ (Olaf Scholz; WamS) und „Nach dem Gipfel-Wochenende würde man fragen was denn gewesen sei, da alles wie unbemerkt ablief“ (Olaf Scholz) und viele andere Versprechen. So ist das hier auch. Sie sehen ja, wie im Moment bestimmte Personen durch die Hamburger Richterschaft abgeurteilt und auch zu sehr fragwürdigen Strafen verurteilt werden. Spiegelbildlich umgekehrt passiert das gleiche Programm gegenüber PolizeibeamtInnen. Diese werden mit Samthandschuhen angefasst und da geschieht so gut wie nichts. Die Dienstelle ‚Interne Ermittlung’ in der Innenbehörde ist leider auch längst verkommen. Sie untersteht mit dem Staatsrat Bernd Größer einem gelernten Polizisten. Von daher können Sie auch von der Dienststelle ‚Interne Ermittlungen‘ keine ernsthafte Aufarbeitung erwarten. Und die endlos geschwärzten Akten, die der Sonderausschuss der Hamburger Bürgerschaft erhalten hat, spiegelt auch hier die Wahrheit wider; selbst der Rahmenbefehl ist bis zur Unkenntlichkeit geschwärzt worden, aber der ist die Grundlage des gesamten gescheiterten Polizeieinsatzes.

Critica: Wie lässt sich diese Polizeigewalt erklären? Geht diese von den einzelnen PolizistInnen oder den leitenden Stellen aus?

Wüppesahl: Hier ist es sehr hilfreich zwischen einzelnen BeamtInnen, Einsatzleitung, Polizeiführungskräften und politisch Verantwortlichen zu differenzieren.  Auch mit Hinblick auf die Verfahren. Die knapp 100 Verfahren richten sich sämtlich nur gegen einzelne PolizeibeamtInnen aus verschiedensten Bundesländern und der Bundespolizei. Nicht eines dieser Verfahren geht gegen die Einsatzleitung. Es gibt zwar ein Ermittlungsverfahren gegen Hartmut Dudde, aber das wird auch pro forma abgearbeitet. Daran zeigt sich, dass die Mechanismen, die rechtsstaatlich und rechtstheoretisch alle wunderbar klingen, nicht zur Anwendung gelangen.

Genauso ist es mit der Frage, die Sie konkret stellen. Die PolizeibeamtInnen haben in der Gruppendynamik häufig die Beherrschung verloren. Nicht nur aufgrund von Erschöpfung und Ermüdung – teilweise nur mit drei bis vier Stunden Schlaf zwischen den Einsatztagen – sondern weil man gewohnt ist, dass man, vor allem wenn man sich unbeobachtet fühlt, machen kann, was man will. Es hat ja regelrechte Prügelorgien gegeben – gegen Menschen, die gefilmt haben oder auch einfach so. Auch der Einsatz von Pfefferspray lief derart ab. RechtsanwältInnen wurden ihrer Rechte beraubt. Diese Gemengelage ist im Grunde allen bekannt, auch der Einsatzleitung und dem Bürgermeister, der ja selbst einst Innensenator war. Da werden die Augen zugemacht und wenn niemand tatsächlich aktiv die Dinge zum Schwingen bringt, dann passiert auch nichts. Das beste Beispiel dafür ist, wenn der erste Bürgermeister von Hamburg nach dem ganzen Irrsinn, den relativ ausgeprägten Gewalt-Exzessen, sagt, es habe keine Polizeigewalt gegeben. Ein rechtsstaatliches Inferno, oder: Der Gipfel der Rechtsbrüche.

Critica: JournalistInnen und RechtsanwältInnen – beides für die Demokratie wichtige Personengruppen – wurden bei G20 teils in ihrer Arbeit behindert. Ist das ein neues Phänomen oder musste man derartiges bereits bei früheren Großprotesten erleben?

Wüppesahl: Es ist kein neues Phänomen, es wird aber immer ausgeprägter. Was ich bereits für die demonstrierenden BürgerInnen formuliert habe, betrifft genauso JournalistInnen und RechtsanwältInnen. In der Gefangenensammelstelle (GeSa) wurde die Arbeit von RechtsanwältInnen, obwohl diese offizielle Organe der Rechtspflege bilden, praktisch ausgehebelt. Häufig hat man die Vorführung der Gefangenen vor den gesetzlich vorgeschriebenen Richter erst nach 40 Stunden gemacht. Das Habeas Corpus-Prinzip wurde künstlich hinausgezögert, wonach jeder Festgenommene spätestens am Ende des Tages nach seiner Festnahme vor einen Richter gestellt wird oder eben in Freiheit entlassen. Genau dies sollte unverzüglich geschehen. Indem man es hinauszögert, wird der Gefangene nach dem Motto „Was er hat, das hat er“ faktisch in Haft gehalten. Genauso ist das übrigens bei vielen Untersuchungshäftlingen nach den Spieltagen zum G20-Gipfel. U-Haft soll der Verfahrenssicherung dienen. Hier gibt es eineindeutig in etlichen Einzelfällen vorweggenommene Strafhaft.
Zudem wurde in der GeSa Nahrung verweigert, Toilettengänge wurden nicht zugelassen und vieles andere mehr. In diesem Ausmaß und in dieser Systematik ist das ein Novum. Zwar gab es das bereits bei bestimmten Einsatzlagen wie bei Gorleben, aber das war dann sehr begrenzt und nicht derart institutionalisiert wie in dieser Gefangenensammelstelle für 400 Menschen.

Auf der Straße gegenüber bei den JournalistInnen ging es genauso zu. Das wurde querbeet – ob durch BILD-Zeitung, Stern, taz oder bestimmten Rundfunksendern – dokumentiert. Die Polizei interessiert sich dann für die Arbeit der JournalistInnen einfach nicht. JournalistInnen werden zur Seite geschoben, ihre Rechte werden missachtet, Presseausweise werden ignoriert oder sie werden sogar verhöhnt. Das sollte Anlass sein, dass JournalistInnen zukünftig sehr viel kritischer die Polizeieinsätze begleiten, aber auch unter Ihren KollegInnen gibt es gar befremdlich anmutende Schulterschlüsse mit den staatlichen Organen.

Critica: Ist dieses Hinwegsetzen der Polizei über geltendes Recht, was man auch bei der Auflösung des verwaltungsrechtlich genehmigten Camps feststellen konnte, eine neue Entwicklung?

Wüppesahl: Nein, neu ist auch das nicht, aber es droht sich zu konstituieren. Wir wissen das aus den verschiedensten großen Einsatzlagen, ob in Berlin, bei Castortransporten oder sonst auch in Hamburg. Entscheidend für einen Polizeiführer ist, dass man auf der Straße gewinnt. Das hört sich an wie bei kleinen Kindern, wenn sie einen Straßenkampf oder anderen Wettstreit führen, aber so ist es. Viele Anlässe sind bekannt, bei denen auch JournalistInnen PolizeiführerInnen angesprochen haben, ‘Was machen Sie denn da? Es ist doch gerade vom Verwaltungsgericht ein solches Vorgehen für rechtswidrig erklärt worden’ worauf der Polizeiführer nur entgegnete ‘Ja dann gehen Sie doch zum Verwaltungsgericht und dann sehen wir uns in drei Jahren gemeinsam das Urteil an.’

Das Problem ist, dass aus solchen Verwaltungsgerichtsurteilen keine negativen Konsequenzen resultieren. Schlimmstenfalls kassiert die Behörde ein Urteil, dass der Einsatz rechtswidrig war – aber eben nur die Behörde. Vielleicht gibt es auch gelegentlich etwas Schmerzensgeld, das aus der Staatskasse bezahlt werden muss. Wirkliche Peanuts und ohne Individualfolgen bei den unrechtmäßig handelnden BeamtInnen. In der Regel führen diese rechtswidrigen Einsätze durch PolizeiführerInnen nicht einmal zu Ernennungshemmnissen, das heißt diese Jungs und Mädchen werden dann locker weiterbefördert. Gerade Hartmut Dudde ist das Paradebeispiel dafür. Dudde hat nach Feststellungen von Hamburger Verwaltungsgerichten mindestens schon drei große Einsätze rechtswidrig gefahren. Dennoch wurde er nicht nur mit der Gesamteinsatzleitung für G20 betraut, sondern vor drei Jahren auch durch den jetzigen Bürgermeister in Hamburg, Olaf Scholz, zum leitenden Polizeidirektor ernannt – im Wissen um seine rechtswidrigen Arbeitsweisen.

Alleine eine solche Tatsache strahlt in den gesamten Apparat aus. Was soll denn ein kleiner Polizeischüler denken, wenn ihm in der Ausbildung Recht und Gesetz beigebracht werden und wenn er in der Praxis solche Fakten erlebt? Das können sie alles Knicken. Das gesamte Berufsethos ist damit vor die Wand gefahren und wenn sich dann die erste Linie der Exekutive, also Ministerpräsidenten, Bürgermeister, Innensenatoren und Innenminister – sogar die Bundeskanzlerin stimmt den Schwamm-drüber-Blues an – in dieser Weise daran beteiligen, dann ist es tatsächlich konstituiert. Wenn es hart auf hart kommt, machen sie  daher im Grunde, was sie wollen. Es nützt dann auch nichts, wenn aus dem wissenschaftlichen Spektrum, auch ProfessorInnenen und ehemalige Richter des Bundesgerichtshofs, wie Dr. Thomas Fischer, und ein paar Polizei-ProfessorInnen bestimmte Dinge einfordern. Die Realität ist eine andere.

In diesem Zusammenhang hat das Verhalten der Grünen ein ganz besonderes Geschmäckle. Die Grünen sind in Hamburg zusammen mit der Soziademokratie in der Landesregierung und bezeichnen sich selbst als Bürgerrechtspartei. Dennoch tragen sie solche Dinge durch Schweigen mit. Es gibt sogar entsprechende Kampagnen aus Innenministern und Polizeipräsidien mit dem Titel “Wer nichts tut, macht mit”. Das gilt ja nun mindestens für die Grünen, wenn sie politische Verantwortung tragen. Hier ist es aber noch viel krasser, weil die Hamburger Grünen derzeit auch den Justizsenator stellen. Dem Justizsenator ist die Staatsanwaltschaft unterstellt und die Aufarbeitung von Strafermittlungsverfahren liegt nach der Strafverfahrensordnung zuerst in der Verantwortung der Staatsanwaltschaft.

Critica: Müssten die Staatsanwälte nicht aus sich heraus aktiv mit der Aufarbeitung beginnen?

Wüppesahl: Von der Staatsanwaltschaft ist keine Aufarbeitung zu erwarten, da die PolizeibeamtInnen, auch wenn das nicht mehr in der Strafprozessordnung geschrieben steht, faktisch nach wie vor so etwas wie HilfsbeamtInnen für die Staatsanwaltschaft sind. Dadurch ist auch der Schulterschluss so unheimlich eng, so dass die Staatsanwälte kaum nennenswerte Dinge gegen PolizeibeamtInnen übernehmen, egal was da stattfindet.

Critica: Bei G20 wurde wieder mal intensiv Pfefferspray eingesetzt. Wie bewerten Sie generell den Einsatz von Pfefferspray? Welche Gefahren sind damit verbunden?

Wüppesahl: Pfefferspray liegt knapp unter dem Schusswaffeneinsatz. Nach Pfefferspray kommt nur noch die Schusswaffe. Die Erfahrungen bei Stuttgart 21, Blockupy in Frankfurt, später auch in anderen Städten, G20 oder anderen Einsätzen haben gezeigt, dass die Polizeien den Einsatz dieses Hilfsmittels körperlicher Gewalt nicht verhältnismäßig anwenden können und dies auch nicht wollen. Es gibt hier ganz krasse Vorgänge, wo ohne Rechtsgrundlage flächendeckend Pfefferspray versprüht wurde oder auch Einzelpersonen gezielt mit einer großen Menge an Pfefferspray gefährdet und verletzt wurden. Selbst wenn wir hier von einer 40-mal so hohen Dunkelziffer ausgehen, ist das noch eine konservative Schätzung. Das Pfefferspray muss den PolizeibeamtInnen wieder weggenommen werden.

Critica: In den letzten Jahren ist die Anzahl an Toten durch Polizeiwaffengebrauch kontinuierlich gestiegen. 2014 gab es 7 Tote, 2015 10 Tote und 13 im Jahr 2016. Wie erklären Sie sich diese Zahlen?

Wüppesahl: Wir werden noch weitere Steigerungen erleben, weil die sozialen Konflikte in diesem Land noch weiter zunehmen werden und zudem die binnenkulturelle Verrohung in den Polizeien galoppierend voranschreitet. Die Aufrüstung unserer Polizei und das Fehlen negativer Sanktionen führen dazu, dass auch die Schusswaffe lockerer sitzt, zumal das Kaliber 7,65 den Polizeimuseen übergeben ist und alle mit 9mm-Munition, die auch noch tendenziell einem DumDum-Geschoß nahekommen, arbeiten [ein DumDum-Geschoß meint eine Patrone mit Teilmantelgeschoss, die sich beim Aufprall im Ziel verformt. Echte DumDum-Geschosse sind als Kriegswaffen geächtet, die Redaktion]. Die Verletzungen sind dadurch immer gravierender und auch eher tödlich.

Critica: Da lässt sich raushören, dass Sie allgemein einen Anstieg der Polizeigewalt in den letzten Jahren und Jahrzehnten beobachten. Wie würden Sie diese Entwicklung erklären?

Wüppesahl: Entscheidend für die Frage ist, wer hierfür die politische Verantwortung trägt. So lange immer nur SPD und CDU und in Bayern natürlich die CSU die Innenministerien besetzen, wird sich daran nichts zum Positiven ändern. Zwar gab es früher gelegentlich FDP-Innenminister, Burkhard Hirsch als NRW-Innenminister von der FDP in den 80er Jahren oder auch von der FDP Baum und Genscher als Bundesinnenminister, das waren noch ganz andere Zeiten. Die Grünen verweigern dogmatisch dieses Ressort zu übernehmen; schon peinsam.

Seit der Wende haben wir einen massiven Rechtsruck in diesem Land und die InnenministerInnen stellen sich hinter jede Vorgehensweise ihrer Polizei – egal was sie machen: ob bei solchen Versammlungslagen oder beim NSU-Komplex, ob bei den Hassanschlägen auf Flüchtlingsheime und Asylbewerberunterkünfte, ob das Chaos inklusive dem Missachten diverser Gesetze bei der Flüchtlingswelle 2015/16 oder dem Komplettversagen bei Anis Amris vielfach angekündigtem Terroranschlag bei der Vorbereitung, Durchführung und auf seiner Flucht mit auch noch frisierten Akten im LKA Berlin – Sie hören keine Kritik durch einen Innenminister an „ihrer“ Polizei. Solange wir dort eine solche Hilflosigkeit agieren sehen, solange wird sich auch in den Polizeien nichts verändern. Das ist die entscheidende Stellgröße, die politische Führung und deren politischer Wille. Dort will man in der Polizei keine kritischen Köpfe haben, diese wurden alle rausgeschmissen oder anderswie kalt gestellt. In Hamburg sind inzwischen alle relevanten Stellen der Sicherheitsarchitektur, ob Verfassungsschutz, Polizeipräsident oder sonst was durch ehemalige PolizeibeamtInnen besetzt, selbst die entscheidenden Abteilungen der Innenbehörde wie dem Amt für Sicherheit und Ordnung. Es fehlt nur noch, dass der Innensenator ehemaliger Polizeibeamter ist. Das waren früher JuristInnen, SoziologInnen oder andere Berufsgruppen. Dafür muss man nicht PolizeibeamtInnen nehmen. Wenn man aber nur noch PolizeibeamtInnen um sich hat, dann hat man nur diese polizeiliche Denke.

Critica: Was würden Sie sagen, sind Gründe, warum nicht mehr Polizistinnen und Polizisten wie Sie sich öffentlich über die Verfehlungen der Polizei äußern?

Wüppesahl: Mit Verlaub, aber das ist fast eine rhetorische Frage. Also dazu gehört der Korpsgeist, die Mauer des Schweigens, jeder der sich so äußert, wird exkludiert, gemobbt oder sogar aus dem Dienst entfernt. Das geschieht vor allem informell aber manchmal auch formal mit an den Haaren herbeigezogenen Disziplinar- oder Strafverfahren. Denn genauso wie man relevante Sachverhalte gegenüber PolizeibeamtInnen runterfahren kann – also wenn die Staatsanwaltschaft wie am Fließband einstellt, denn dann ist der Sachverhalt eingestellt und gelangt nicht vor Gericht – kann man umgekehrt aus einem Furz eine Giftgaswolke machen. Das geschieht mit solchen KollegInnen. Aus der Bielefelder Sozialforschung aus den 90ern wissen wir, dass die größte Angst der KollegInnen darin liegt informell ausgegrenzt zu werden, nicht die Sorge vor Disziplinar- und Strafermittlungsverfahren, die in der Regel bei PolizeibeamtInnen eingestellt werden. Wenn man erstmal das Label ‚Kameraden-’ oder ‚Kollegenschwein’ hat, ist es vorbei. Dann bekommt man keinen Fuß mehr auf den Boden. Damit ist dann bei den meisten PolizeibeamtInnen, weil sie nichts anderes gelernt oder studiert haben, die berufliche Existenz verbunden, Familienabsicherung und und und.

Critica: Würden Sie sagen, dass es aber durchaus mehr kritisches Potential bei den PolizistInnen gäbe, dass sich dieses aber wegen des Korpsgeist nicht äußern kann?

Wüppesahl: Nein, es gibt nicht mehr viel kritischen Geist. Für Hamburg können wir das definitiv sagen. Das wurde alles weggeschmirgelt oder ist jetzt in Pension. Schon zwischen 2001 und 2009 wurden unter Roland Schill und Ole von Beust auch im höheren Dienst die relevanten Leute alle weggeschickt: das betraf den Leiter des Landeskriminalamtes, den Leiter Wirtschaftskriminalität, den Leiter organisierte Kriminalität et cetera, die wurden alle an die Landespolizeischule geschickt. Landespolizeischulen und Fachhochschulen sind bei den Polizeien eben bundesweit die Mülleimer. Deswegen müssen die Leute, die dort landen, nicht schlecht sein, aber sie passen nicht in die Praxis oder den Vollzug. Solange das so wie derzeit gesteuert ist, können Sie nicht von noch relevantem kritischem Potential in den Polizeien ausgehen, zumal die Auszubildenden an den Landespolizeischulen und Polizeiakademien ja auch darüber schon früh sehen was einem widerfährt, wenn man seine Korpsgeist-Strophen missachtet. Kritisches Potential gab es aus den 80er Jahren heraus, als die Fachhochschulen für die Polizeien neu gebildet waren. Doch diese sind inzwischen längst zu gehobenen Berufsschulen verkommen und werden wieder von der Polizei und den Innenministerien beherrscht. Da gibt es keine unabhängige, also wissenschaftliche oder akademische Ausbildung. Da können wir im Moment nicht viel Hoffnung machen. Aber das ist alles keine Naturgesetzlichkeit. Wenn es ganz oben, also in den Innenministerien, andere Kräfte gäbe, ließe sich das ändern.

Critica: Als Außenstehender ist der polizeiliche Korpsgeist nur schwer nachzuvollziehen. Wie kommt es zu diesem?

Wüppesahl: Es gibt einen Korpsgeist, der völlig legitim und notwendig ist. Bei der Polizei gibt es Situationen, wo man in einer Gefahrengemeinschaft agiert wie bei bestimmten Einsatzlagen, gegen irgendwelche Kapitalstraftäter. Das ist bei Raubmord, Terrorismus, Drogenhandel und organisierter Kriminalität schlechthin der Fall. Da kommen Sie auch aus dem Streifenwagen  in Situationen, wo Sie sich bedingungslos auf den Kollegen oder die Kollegin verlassen können müssen. Das ist der gesunde Korpsgeist. Wie beim Soldaten. Dabei geht es dann um die Gesundheit der beteiligten BeamtInnen oder sogar ums Leben. Das Problem ist aber, dass wir den ungesunden Korpsgeist längst als Alltagsroutine haben. Das betrifft sämtliche Bereiche: etwa bei verbalen Konfliktlagen mit BürgerInnen – da werden sie es nicht erleben, dass ein Kollege einem Bürger gegen seinen anderen Kollegen Recht gibt. Genauso ist es bei Strafverfahren gegen PolizeibeamtInnen oder wenn KollegInnen selbst sehen, dass ein Beamter oder eine Beamtin eine Straftat begangen hat. So gut wie nie werden PolizeibeamtInnen dies melden. Alle BeamtInnen haben dann in der Situation Hörprobleme, gerade woanders hingeguckt und wissen was von ihnen erwartet wird. Das ist der negative Korpsgeist.

Außerdem gibt es noch die Dimension, dass wenn PolizeibeamtInnen eine Straftat sehen und nichts tun, sie später automatisch noch mit einem anderen Straftatbestand des Strafgesetzbuches konfrontiert sind, nämlich Strafvereitelung im Amt. Das heißt, wenn sie nicht auf der Stelle was tun, dann müssen sie sich nach aktueller Gesetzeslage später, wenn sie die KollegInnen doch noch anzeigen, dafür rechtfertigen. Aber das ist natürlich keine Rechtfertigung, nicht einmal eine Entschuldigung, zumal die Staatsanwaltschaften und Gerichte solche Konstellationen entsprechend würdigen. Sie haben es jetzt auch beim G20-Einsatz. Ich kenne nicht eine Remonstration, obwohl dutzende rechtswidrige Handlungen durch Polizeibeamte stattgefunden haben. [Eine Remonstration ist im deutschen Beamtenrecht ein schriftlicher oder verbaler Widerspruch gegen eine Weisung durch einen Vorgesetzten, die zu einer Überprüfung der Weisung und gegebenenfalls zu einer Entbindung von der Gehorsamspflicht führt, critica-Redaktion].

Man kann das auch nicht gleichsetzen mit Straftaten, die von Autonomen oder wem auch immer dort begangen wurden, weil das BürgerInnen sind. Die handeln privat, auf eigene Rechnung. Hier handeln PolizeibeamtInnen aus der Rolle des staatlichen Gewaltmonopols. Das ist eine ganz andere Qualität.

Wenn der Staat sagt, wir haben das Gewaltmonopol, ihr Bürger habt das nicht selbst zu regeln und sich dann mal eben um 10.000 oder 8.000 Polizeibeamte bei der Öffentlichkeitsarbeit vertut, während nicht eine der Straftaten, die jetzt PolizeibeamtInnen vorgeworfen werden durch eingesetzte Polizeibeamte angezeigt wurde, dann war es das für den Rechtsstaat. Dann darf man ihn langsam als Potemkinsches Dorf bezeichnen.