Die Linke.SDS

Hochschulpolitischer Antifaschismus

I) Ausgangslage: Polarisierung

“Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr ‘führend’, sondern einzig ‘herrschend’ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.”

(Antonio Gramsci)

Praktischer Antifaschismus an der Hochschule: 1936 werden Franco und seine Faschist_innen im Madridener Universitätsviertel zurückgeschlagen und Madrid verteidigt.

Nach Jahrzehnten neoliberalen Angriffs ist die kapitalistische Alltagsrealität von Millionen Menschen geprägt von Prekarisierung, Burn-Out, Depression, Erwerbslosigkeit, Armut, (begründeter) Abstiegsangst, Erniedrigung, Ohnmacht, Vereinzelung, Ausgeliefertheit, Zukunftsangst, Entfremdung usw. Es wird zunehmend die absurde Dekadenz eines Systems deutlich, in dem die reichsten 62 Menschen so viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. In dieser sozialen Polarisierung scheint die Möglichkeit eines „guten Lebens für Alle“ durch oder doch zumindest die Veränderbarkeit des status quo. Diese Polarisierung zeichnet sich in den Alltagsauffassungen und dem Ringen um die Deutung der aktuellen gesellschaftlichen und subjektiven Situation ab. So ergab die aktuelle Studie der „enthemmten Mitte“ ein Anwachsen der so bezeichneten „demokratischen Milieus“ von 37% im Jahr 2006 auf nun 60%, während die antidemokratisch-autoritären Milieus von 42% im Jahr 2006 auf nun 26% geschrumpft sind, wobei  innerhalb dieses rechten Pols die autoritären Aggressionen gegen Muslime, Sinti und Roma und Asylsuchende sowie die Radikalisierung (Gewaltbereitschaft) zugenommen haben.

Wenn wir uns also die Frage nach dem wirksamen Kampf gegen Rechts stellen, müssen wir die gesamtgesellschaftliche Situation einbeziehen und uns zunächst fragen, welche Funktion der Rassismus darin eigentlich genau einnimmt.

II) Die Funktion des Rassismus und die Rolle der AfD

Der Marburger Faschismustheoretiker Reinhard Kühnl zeichnete die Grunderfahrung in kapitalistischen Verhältnissen als elementare Unsicherheit (durch die „Freiheit von Produktionsmitteln“ und die Konkurrenz) und Ohnmacht in der Gestaltung der Lebensbedingungen. Der Rassismus ist eine herrschenderseits geschürte und subjektiv gepflegte Verarbeitung dieser kapitalistischen Daseinsbewältigung.

Dazu schreibt Ute Osterkamp, Kritische Psychologin der ersten Stunde, in ihrem Text „Rassismus und Alltagsdenken“ im Jahr 1991:

„Die subjektive Grundlage rassistischer bzw. ausländerfeindlicher Äußerungen ist die Angst, durch die gesellschaftliche Entwicklung überrollt, übergangen, an die Wand bzw. ins Abseits gedrängt zu werden. Die herrschende Rede von der ‘Flut’, ‘Schwemme’, ‘Überfremdungsgefahr’ etc. bringt diese Ängste vor der Ausgeliefertheit an undurchschaubare und unkontrollierbare Mächte plastisch-anschaulich auf den Begriff und bietet zugleich die ‘Ausländer’ als Objekte an, an denen man die aus solchen Ängsten erwachsenden Aggressionen auslassen kann. Eine solche Kanalisierung der Aggressionen hat den ‘Vorteil’, daß sie die Bekämpfung der Notlage in einer Weise erlaubt, die den Konsens mit der herrschenden Meinung eher festigt als gefährdet und sich gegen einen ‘Feind’ richtet, der eindeutig in der schwächeren Position ist.“

Rassismus hat demnach subjektiv zum einen die Funktion der Welterklärung für vermeintlich undurchschaubare Verhältnisse und zum anderen die Funktion des Arrangements mit den Herrschenden und herrschenden Verhältnissen durch die Verschiebung einer realen (!) Aggression auf einen konstruierten Feind, der objektiv mit der eigenen schlechten Lage nichts zu tun hat. Herrschenderseits wird durch das ideologische und strukturelle Schüren von Rassismus die Spaltung der unterdrückten Klasse und das In-Konkurrenz-Setzen zur Aufrechterhaltung der eigenen Klassenposition betrieben.

In einer Situation der massiven Hegemoniekrise, in der das neoliberale Establishment den Konsens der Subalternen immer weniger organisieren kann (Brexit, Trump, Renzi-Referendum), versuchen AfD, CSU und Co. die eigentliche Frage der Verfügung über die Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in eine bloß moralische Frage umzuarbeiten.

Als ein historischer Vorläufer dieser Politik kann der „Thatcherismus“ (Stuart Hall) rund um Margaret Thatcher, neoliberale Premierministerin Großbritanniens von 1979 bis 1990, gelten. Stuart Hall charakterisierte dessen kulturelle Strategie als „autoritären Populismus“, der an den entsicherten realen Erfahrungen und materiellen Bedingungen der popularen Klassen  ansetzte, diese aber zu einem moralischen Problem umarbeitete: als Zusammenbruch „traditioneller“ Lebensweisen und „Verfall der Werte“, dem es durch „Law and Order“ zu begegnen gelte. Dabei wird in der Sprache der Moral, die erstmal keine Klassen kennt, an die konservativen Elemente des Alltagsverstands angeknüpft, der tief durchdrungen ist von religiösen Begriffen von Gut und Böse, von festen Vorstellungen über den unveränderlichen  Charakter menschlicher Natur und von Vorstellungen der gerechten Strafe. Margaret Thatcher konstruierte sich als Wächterin der „Rückkehr zu den Maßstäben“, die sich durch autoritäre Erziehung, die Rekonstruktion der traditionellen Frauenrolle und Hetze gegen „Migranten“ und „Wohlfahrtsschmarotzer“ mit anti-etatistischem Gestus gegen das „sozialdemokratische Monopol auf den bürokratischen Staat“ richtete. „So ist es dann möglich, Labour als Teil der ‘großen Bataillone’ zu repräsentieren, die gegen den ‘kleinen Mann’ (und seine Familie) gerichtet sind, der von einer unfähigen Staatsbürokratie unterdrückt wird. Auf diese Weise ist die Sozialdemokratie mit dem Machtblock verknüpft, und Mrs. Thatcher ist draußen ‘mit dem Volk’.“ (Stuart Hall, „Popular-demokratischer oder autoritärer Populismus“, 1980) So konnte die Rechte unter ihrer Führung den objektiven Widerspruch zwischen herrschendem Block (zu dem Thatcher ohne Frage gehörte) und Subalternen (teilweise) neutralisieren und die Wahl 1979 gewinnen.

Die AfD als Speerspitze eines autoritär-populistischen Projekts in der BRD versucht nun in diese Fußstapfen zu treten, indem sie sich als Anti-Establishment-Partei in einem fabulierten „Kulturkampf“ imaginiert, die weg will vom „links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland”. Der politische Kampf gegen den neoliberalen Block an der Macht und dessen soziale Verheerungen durch Agenda 2010 und Co. als wirkliche Bearbeitung der objektiven Probleme wird so umgedeutet in „die Frage über die Verteilung unseres Volksvermögens nicht von Oben nach Unten, nicht von Jung nach Alt, sondern über die Frage der Verteilung unseres Volksvermögens von innen nach außen“, wie Björn Höcke faschisierte. Damit hat die AfD vor allem die Funktion der Rettung neoliberaler Verhältnisse durch die Umdeutung der sozialen in eine bloß moralische Frage durch kleinbürgerliche, kulturell reaktionäre und rassistische Hetze. Sie will objektiv den status quo weiter neoliberal zuspitzen und sozial gesicherte  Lebensverhältnisse durch Geborgenheitsgefühle in einer „Volks- und Kulturgemeinschaft“ ersetzen. Sie ist aber mitnichten als rassistische Partei ausreichend charakterisiert.

III) Hilfloser Antifaschismus am Beispiel von „Aufstehen gegen Rassismus“

“Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein, die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll nicht geschlachtet werden. Sie wollen das Kalb essen, aber das Blut nicht sehen. Sie sind zufriedenzustellen, wenn der Metzger die Hände wäscht, bevor er das Fleisch aufträgt. Sie sind nicht gegen die Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen, nur gegen die Barbarei. Sie erheben ihre Stimme gegen die Barbarei und sie tun das in Ländern, in denen die gleichen Besitzverhältnisse herrschen, wo aber die Metzger noch die Hände waschen, bevor sie das Fleisch auftragen.”

(Bertolt Brecht, „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“, 1938)

Als ein aktuell prominenter Ausdruck eines schon von Brecht 1938 beschriebenen, elitären, ohnmächtigen und hilflosen Antifaschismus/Antirassismus kann die Kampagne „Aufstehen gegen Rassismus“ begriffen werden. Zwischen über 15.000 UnterzeichnerInnen und dem „Who is Who“ der Linken in der BRD haben sich u.a. die Generalsekretärin der SPD, die Familienministerin und die GRÜNEN-Spitze versammelt. Der Aufruf selbst wendet sich appellativ gegen die AfD und Rassismus. Gegen Pogrome, Schusswaffengebrauch an Grenzen und Demos der AfD. Kritik an der Asylrechtsverschärfung durch das sog. „Asylpaket II“ von CDU/SPD und die Benennung der Sündenbockfunktion von Flüchtlingen für zunehmende soziale Ungleichheit und Verunsicherung wurde „aus Rücksicht“ auf die Mitglieder der SPD und die Breite des Bündnisses im Vorfeld gestrichen.

Als Kampagnenziel wird auf der Homepage davon gesprochen,

„die Linie der Ächtung neu ziehen“ zu wollen. Weiter heißt es: „Uns ist dabei klar, dass wir nicht alle RassistInnen vom Gegenteil überzeugen können, aber wir wollen die Linie der Akzeptanz neu ziehen. Damit klar wird: ‘Wenn du bestimmte Ansichten vertrittst, überschreitest du die rote Linie.’“

Die AfD wird also nicht als radikalisierter Ausdruck von in der gesamten Gesellschaft vorherrschenden rechten Einstellungen begriffen, sondern alles gesellschaftliche Übel auf die AfD projiziert und damit externalisiert. Am deutlichsten zeigen das die Bilder auf der Homepage der Kampagne. AfDlerInnen nach rechts und Mauer drumherum. Dabei wird nicht einmal zwischen (Protest-)WählerInnen und Mitgliedern der AfD unterschieden. „Aufstehen gegen Rassismus“ ist damit eine Sammlung aller moralisch Empörten zur Volksfront gegen eine Bewegung, die gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu bloß moralischen verschleiert und sich in dieser Linie als Anti-Establishment inszeniert. Das wird also nicht klappen.

IV) Linker Aufbruch gegen Rechts

Was aber könnte stattdessen klappen? Die Antwort ist – wie so häufig – das Einfache, was schwer zu machen ist.

In Wirklichkeit gibt es nämlich nicht einfach rassistische und nicht-rassistische Menschen. Unser aller Alltagsverstand ist „bizarr zusammengesetzt“, es finden sich in ihm „Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen sein wird.“ (Antonio Gramsci, GH 1376)

Wir müssen uns also ins argumentative Handgemenge vorwagen, in die Diskussion gegen reaktionäre Deutungsmuster und Ideologiefragmente. Wir brauchen also einen linken Aufbruch, der für soziale Alternativen eintritt (bspw. menschenwürdige Rente, gute Arbeit, Gesundheit, Mobilität für Alle), über die systemerhaltende, anti-soziale Funktion der Rechten und des Rassismus aufklärt und dafür den Konflikt mit dem neoliberalen Establishment aufnimmt. Jeremy Corbyn, Chef der Labour-Partei in Großbritannien, hat am 2. Juli 2016 während einer Rede auf einer Demonstration gegen die hate crimes nach dem Brexit, Folgendes gesagt, das sehr gelungen die Verknüpfung von Anti-Rassismus und der sozialen Frage aufzeigt:

„Hatred, xenophobia, racism, violence within our society will not build one house, will not educate one child. Inequality will fail to educate a child, will fail to provide the housing that we need. Build something better, build something stronger and recognise, economic equality will lead to decency and real equality for everyone in our society.“

Wir müssen deutlich machen, dass Rassismus unser aller Hirne verklebt, uns davon abhält die realen Ursachen unserer Probleme und unserer MitstreiterInnen zu erkennen und damit gegen unser aller Interesse an Emanzipation aus Verhältnissen gerichtet ist, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx).

Die Linke/LINKE muss politisch, programmatisch und kulturell eine Alternative zum status quo (und damit der AfD) sein. Wir müssen als Assoziation von progressiven Aktiven bereits ein Vorschein auf eine Gesellschaft sein, die wir überall realisieren wollen. Denn bereits der (massenhafte) Austritt aus der verordneten Unbedeutendheit und Depression neoliberaler Verhältnisse durch den Eintritt in emanzipatorische Politik ist eine reale gesellschaftliche Veränderung, die dann auch institutionelle Veränderungen bewirken wird.

V) Antifaschismus an der Hochschule: emanzipatorische Persönlichkeitsentwicklung, Demokratie und kritische Wissenschaft

Als SDS führen wir diesen Kampf an den Hochschulen als institutionalisiertes Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen vor allem Bildungs- und Wissenschaftsprozesse organisiert werden; diese können wir nach links verschieben, denn auch in den Wissenschaften tobt der Klassenkampf. Ob die Vereigenschaftlichung sozialer Verhältnisse in einer Person (und damit die Individualisierung und Naturalisierung) in der traditionellen Psychologie, die neoklassische Verschleierung von Klassenverhältnissen in der Voodoo-Ökonomie oder die generelle postmoderne Auflösung gesellschaftlicher Konflikte, Herrschafts- und Machtverhältnisse in der Diskursanalyse; hier geht es ums Ganze: die Aufklärung gesellschaftlicher Zusammenhänge, das Entwickeln eines kohärenten Bewusstseins der eigenen (Klassen-)Lage, die Bekämpfung allerlei Ungleichheitsideologien und das Entwickeln gesellschaftlicher Alternativen. Damit trocknen wir den ideologischen Nährboden reaktionärer Krisendeutungs- und Antwortversuche aus und verwandeln gesellschaftliche Aggressionen in politische Perspektive.

Der Kern aller rechten Ideologie ist die behauptete Ungleichwertigkeit von Menschen und deren Selektion. Die Überwindung des Bachelor-Master-Systems durch emanzipatorisches Projektstudium, gekoppelte Zulassung zu Bachelor und Master, die soziale Öffnung der Hochschulen (insbesondere für Geflüchtete), die Abschaffung von Prüfungen, Zwangsexmatrikulation und ein elternunabhängiges Studienhonorar ist ein wichtiger Schritt. So kann an Hochschulen (wieder) Bildung statt Halbbildung zu autoritären Charakteren stattfinden.

Weil das reaktionäre Fundament des Alltagsverstandes die Grundlage für rechte Agitatorik ist, liegt eine enorme Sprengkraft in unserer Praxis als dielinke.SDS vor allem darin, eine kulturelle Alternative zu (Leistungs-)Anpassung und Konformität zu bilden, welche unsere KommilitonInnen dazu ermutigt, (ebenfalls) aus dem Hamsterrad auszusteigen und für Verbesserungen mit uns einzutreten.

Die antifaschistische Bedeutung emanzipatorischer Hochschulpolitik kann besonders durch das tätige Erinnern an die antifaschistischen Kämpfe deutlich gemacht werden. Ob durch die Lesung aus den verbrannten Büchern zum Jahrestag der Bücherverbrennungen, Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht, kritische Ausstellungen zur faschistischen „Feuerzangenbowle“ oder die Würdigung der „Weißen Rose“. Die kulturelle Verlebendigung dessen, wogegen sich die Rechten zu allen Zeiten vor allem wendeten, ist ein zentraler Beitrag, sich die Bedeutung von Bildung und Wissenschaft zu vergegenwärtigen und sie aktualisiert in die Auseinandersetzungen dieser Zeit einzubringen.

Arthur Brückmann ist aktiv im SDS* an der Uni Hamburg

Weiterführende Literatur:

1 Laut infratest dimap wurde die AfD bei den letzten Landtagswahlen zu sehr großen Teilen aus Enttäuschung über andere Parteien gewählt. In Rheinland-Pfalz zu 62% (29% aus Überzeugung von Partei), in Sachsen-Anhalt zu 64% (27% aus Überzeugung von Partei) und in Baden-Württemberg gar zu 70% (21% aus Überzeugung von Partei).