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Warum Eribon den Aufstieg der Rechten nicht erklären kann

Didier Eribon – Rückkehr nach Reims

Didier Eribon hat eines der mitreißendsten und anregendsten Bücher der letzten Jahre geschrieben. Wer „Rückkehr nach Reims“ liest, erlebt unzählige Aha-Effekte, die Gedanken geraten in Bewegung und die Ideen schießen nur so durch den Kopf. Das ist die wichtigste Funktion dieses Buches – einen erzählerisch packenden Denkanstoß zu liefern.

Dieser Anstoß hat gewirkt. Mittlerweile ließe sich ein ganzes Buch über die Eribon-Lektüre und ihre Schlüsse schreiben. Der Großteil der Eribon-Leser*innen liest Rückkehr nach Reims, weil es packend geschrieben ist. Die meisten Linken hingegen verweisen auf das Buch aus ganz anderen Gründen. Eribon stellt in wenigen Kapiteln des Buches einige spannende Thesen zum Aufstieg der Rechten (Front National) und der politischen Veränderung der Arbeiter*innenklasse auf. Diese Themenwahl kann aber das Interesse am Buch kaum erklären, denn anderswo wurde das Thema schon viel gründlicher und besser bearbeitet. Warum versetzt dieses Buch dennoch so viele Linke in Aufruhr?

Das Buch erzeugt seine Spannung nicht zuletzt aus der Lebensgeschichte Eribons. Als Kind der Arbeiter*innenklasse, Homosexueller und Foucault-Biograf repräsentiert er gerade die akademische Linke, die sich politisch und individuell von der Arbeiter*innenklasse abgewandt hat. Durch diesen Hintergrund finden zwei linke Strömungen, die in der Zeit der 60/70er auseinandergingen, wieder in ihrem gemeinsamen Interesse an „Rückkehr nach Reims“ zusammen: der philosophisch und linksliberal geprägte Strang – interessiert an Foucault und Bourdieu auf der einen Seite; auf der anderen die Linken, die nach wie vor auf die Arbeiter*innenklasse setzen (Marxist*innen und gewerkschaftlich geprägte). Eribon spricht beide Teile an, weil der Aufstieg der Rechten allen Linken Sorgen machen. Die gesamte Linke sucht nach Antworten. Und genau in dieser Zeit schreibt Eribon als Repräsentant des einen Teils – der philosophischen Linken, als bekannter Foucaultbiograf dieses Buch; mit seinem geschulten Blick für Unterdrückungsverhältnisse wendet er sich wieder der Arbeiter*innenklasse zu. Das erzeugt Aufmerksamkeit in der gesamten Linken und darüber hinaus.

Warum Eribon den Aufstieg der Rechten nicht erklären kann

Die autobiografische Herangehensweise ist Stärke und Schwäche zugleich. Eribon beschreibt den Rechtsruck der französischen Arbeiter*innenklasse anhand seiner eigenen Familiengeschichte: Sein Vater und die ganze Nachbarschaft bestand aus treuen Anhänger*innen der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). Nach jahrelanger Funkstille zwischen ihm und seiner Familie stellt er fest, dass seine Familie nunmehr den Front National wählt. Das verblüfft, deckt sich aber mit unseren Beobachtungen der jüngsten Zeit: Wurde nicht Norbert Hofer (FPÖ) in Österreich von 84% der Arbeiter*innen gewählt, haben nicht über 30% der Arbeiter*innen bei den letzten Landtagswahlen in Deutschland flächendeckend die AfD gewählt? Und diese Rechtswähler*innen sollen früher links gewählt haben?

Genau das zeigt uns Eribon. Er verweist auf ein linkes Defizit: Gerade der Teil der Gesellschaft den viele Linke vertreten wollen, wendet sich von ihr ab. Und wählt jetzt rechts – europaweit. Das versetzt uns in Aufregung. Eribon stößt uns auf dieses Versagen der Linken. Und wir fangen an zu grübeln: Wie können wir die Arbeiter*innen wieder für uns gewinnen? So richtig diese Frage ist, bleibt „Rückkehr nach Reims“ eine Antwort schuldig.

Der Grund dafür ist Eribons Familiengeschichte. Er hatte 30 Jahre keinen Kontakt zu seiner Familie und hat die Veränderung ihrer politischen Einstellungen nicht miterlebt. Genau diese Leerstelle merkt man dem Buch beim zweiten Lesen an. Eribon malt eindrücklich zwei Bilder: Das Bild der Arbeiter*innen der 70er und das der 2000er. Dazwischen: Nichts.

Das Buch ist stark in seinen Momentaufnahmen der jeweiligen Zeit. Ein gutes Beispiel ist folgende Feststellung: In den 70ern waren die Arbeiter*innen auch rassistisch, aber das machte nicht ihre Identität aus. Die eigene Identität als Arbeiter*in wurde durch ein stolzes „Wir Unten“ gegen „die da oben“ zum Ausdruck gebracht. Deshalb wählte Mann und Frau links, kommunistisch selbstverständlich. Heute hingegen ist die Hauptidentität „Franzose/ Französin“ gegen „die andern“, konstatiert Eribon. Nur wie kam es zu dieser Veränderung?

Eribon stochert im Dunkeln

Eribon hat sich darüber natürlich Gedanken gemacht und zählt folgende Gründe auf:

1. Die Intellektuellen: Die Ungleichheit und Ungerechtigkeit, der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit war das große Thema der 70er. In den 80ern sprachen die Intellektuellen  – typisch neoliberal – nur noch von Eigenverantwortung und Freiheit. Die Intellektuellen wandten sich damit von den Arbeiter*innen ab.

2. Akademisierung: Die Linke akademisierte sich. Arbeiter*innen kamen in linken Organisationen immer weniger vor. Vor allem in den Führungsetagen.

3. Der Verrat: Die organisierte Linke beging mit der Mitterandregierung von 1981-1984 Verrat an den Arbeiter*innen.

4. Rinks und Lechts: Daher wandten sich die Arbeiter*innen ab. Es war egal, ob links oder rechts regiert. „Die da oben“ – womit jetzt auch Linke gemeint waren – machen sowieso was sie wollen.

Eribon leitet daraus zwei zentrale Thesen ab: Da nur die Wahl des Front National noch Empörung bei „den da oben“ auslöst, wählen die Arbeiter*innen heute kollektiv den Front National. Sie brauchen ein kollektives Subjekt um sich ihrer selbst zu versichern. Nur muss dieses kollektive nicht unbedingt links sein. Der große Fehler der marxistischen Linken, so Eribon, sei es die Arbeiter*innenklasse als das eine progressive Subjekt der Veränderung auserkoren zu haben. Das sei nun widerlegt. Ich halte beide Thesen für falsch oder so nicht für haltbar.

Und das nicht weil Eribon mit allem falsch liegt – im Gegenteil: Die Rechtswende der „Nouveau Philosophes“ in Frankreich war krass. Ein weiterer wichtiger Faktor war die furios gestartete Linksregierung in Frankreich aus Sozialisten und Kommunisten Anfang der 80er – die in einer desaströsen Niederlage und dem finalen Umschwenken beider auf neoliberale Politik endete. Nach dem Scheitern dieser Regierung begann der Aufstieg des Front National. Nur vollzog sich diese Niederlage der Linken und der Aufstieg der Rechten ebenso wie die Akademisierung der Linken fast ausnahmslos in Westeuropa. Daher greift es zu kurz hier nur auf den Verrat der KPF zu verweisen – sonst hätten alle linken Parteien und Kräfte in Europa gleichzeitig genau denselben Fehler gemacht. Das ist unwahrscheinlich und daher liegt es nahe, dass es sich Eribon hier zu leicht macht.

Eribons falsche Annahmen

Wenn Eribon von „den“ Linken spricht, differenziert er schlicht überhaupt nicht. Europaweit gab es in den 80ern einen massiven Rechtsruck. Kaum zufällig fiel das mit der Durchsetzung neoliberaler Politik in fast allen westeuropäischen Ländern zusammen. Nicht zuletzt rückte in dieser Zeit die Sozialdemokratie in die Mitte und viele Gewerkschaften orientierten auf Sozialpartnerschaft. ABER nicht die gesamte Linke rückte derart nach rechts. Auch die KPF schwenkte in Frankreich kurz nach ihrer Regierungsphase wieder stark nach links. Wenn Eribon von der Mitschuld der Linken spricht und den neoliberalen Schwenk der europäischen Sozialdemokratie meinte, sollte er das auch so sagen und analysieren. Denn hier gibt es tatsächlich einen starken Zusammenhang. Das jüngste Beispiel dafür sind die skandinavischen Länder, wo der Kurswechsel der Sozialdemokratie mit dem Aufstieg der Rechten korrelierte.

Neben dem Mangel an Differenzierung ist eine wichtige Vorannahme Eribons fragwürdig. „Die“ Arbeiter*innen waren früher nicht alle links. Auch in den 60/70ern hat weniger als die Hälfte der französischen Arbeiter*innen die KPF gewählt. Nochmal: Weniger als die Hälfte. Diese Differenzierung findet sich bei Eribon nicht wieder. Dabei wäre das wichtig um den Rechtsruck besser zu verstehen. Ein Teil der Arbeiter*innen war auch damals schon rechts. Auch heute wählt nur ein Teil rechts. Wie Sebastian Chwala in seinem hervorragenden Buch über den Front National herausarbeitet, sind das vor allem Arbeiter*innen mit Einfamilienhäusern im Umkreis der großen Städte. Sie sind stark leistungsorientiert, fühlen sich zu wenig gewertschätzt und teilen aus gegen vermeintlich „faule“ Franzosen und „die Ausländer“. Zudem wird der Front National heute insbesondere in Regionen mit sehr großer Verteilungsungleichheit und hohen Arbeitslosenquoten gewählt. Das ist übrigens eine Gemeinsamkeit mit Deutschland. Wer sich die jüngsten Wahlergebnisse der AfD in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin anschaut, findet die rechten Hochburgen genau in diesen Regionen und Stadtteilen.

Auch der Einstellungswechsel lässt sich anderswo gut nachvollziehen. Die Soziologen Beaud/ Pialoux arbeiten in ihrer Langzeitstudie „Die Verlorene Zukunft der Arbeiter“ von 2004 heraus, dass rechtes Gedankengut unter den Arbeitenden seit den 80ern zunimmt. Doch sie finden dafür auch Gründe. In ihrer Studie, basierend auf  jahrzehntelangen Untersuchungen in dem Peugeotwerk Socheaux, konstatieren sie, dass Anfang der 80er die Streikbereitschaft, das politische Bewusstsein und die Solidarität unter den Arbeitenden sehr hoch war und umgekehrt der Rassismus eher weniger stark ausgeprägt war. Mit der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse nahm dieser aber rasant zu. Die Arbeitsmarktreformen und Unternehmungsumstrukturierungen führten dazu, dass die Arbeitenden zunehmend in Konkurrenz standen. Je unterschiedlicher die Arbeitsverträge, Befristungen usw. und je weniger Normalarbeitsverhältnisse es gab, desto stärker nahmen rassistische Ressentiments zu. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Klaus Dörre bei seinen jüngsten Befragungen in Deutschland.

Bei Eribon fehlen diese Erkenntnisse völlig. Stattdessen schüttet er das Kind mit dem Bade aus und erteilt einer marxistisch orientierten Arbeiter*innenpolitik eine Totalabsage. Dabei haben nur die dümmsten Marxist*innen Arbeiter*innen per se zu der einen progressiven Kraft erklärt. Andersrum wird ein Schuh draus: Ohne weite Teile der arbeitenden Bevölkerung wird es keine progressiven Gesellschaftsveränderungen geben. Das hat historische und aktuelle Gründe: Historisch hat meist die Arbeiter*innenbewegung – allein oder im Bündnis mit progressiven Teilen des Bürgertums – gesellschaftliche Verbesserungen durchgesetzt: Das Wahlrecht für Alle, eine gesetzliche Rente und Krankenversicherung, die gesetzliche Gleichstellung der Frau und vieles mehr. Auch in den letzten Jahrzehnten gelangen alle Verbesserungen nur durch Mitte-Unten-Bündnisse. Seit es diese nicht mehr gibt, gibt es keine progressiven Reformen mehr (bis auf ganz wenige Ausnahmen).

Das zeigt: Eribons Betrachtung ist zu sehr soziologisch geprägt und nimmt zu wenig ökonomische, politische und historische Betrachtungen in den Blick: Die Erkenntnis, dass der klassische Fließbandarbeiter im Blaumann nicht mehr die Arbeiter*innenklasse idealtypisch repräsentiert, brauchte seine Zeit. Jede Kapitalismusformation hat ihre spezifischen linken Organisierungsformen. Heute gibt es in Deutschland mehr Erzieher*innen und Krankenpfleger*innen als Beschäftigte in der Automobilindustrie. Das bildet sich aber noch zu wenig in den linken Organisationen ab. Da gibt es einiges zu tun.

Wer also gegen die Rechte etwas tun will, sollte besser schauen welche linke Organisierung im Gegenwartskapitalismus Solidarität und Erfolge schaffen kann. Und wie das klassenübergreifend – Arbeiter*innen mit progressiven Teilen der Mitte funktioniert. Von Eribon lässt sich anhand des Beispiels seiner Mutter zeigen, dass es weitere Anknüpfungspunkte gibt. Der Front National ist erzkatholisch und daher gegen Abtreibungen. Seine Mutter wählt ihn trotzdem, obwohl sie selber abgetrieben hat – wie es viele andere tun, die aber genauso viele Positionen am Front National stören. Linke müssten diese anderen Punkte aufspüren und das Unbehagen damit verstärken. Außerdem weist Eribon in einem Aufsatz auf einen wichtigen Punkt hin: Die Arbeiter*innen wählen die Rechten zwar, organisieren sich aber nicht dort. Die rechtspopulistischen Parteien sind europaweit keine Massenparteien wie es sozialdemokratische und kommunistische Parteien waren. Das macht Hoffnung und ist ein Ansatzpunkt.

Auch wenn Eribon kaum konkrete Lösungen aufzeigt, sind seine Fragen die richtigen. Nur die Antworten müssen wir selber finden!

Janis Ehling ist Mitglied der Bundesgeschäftsführung von Die Linke.SDS

 


1 Diesen Gedanken verdanke ich einem Gespräch mit Heinz Hillebrand.

2 Darauf hatte Rainer Rilling in einem Kommentar zum Buch bereits hingewiesen.

3 Die Ausnahme sind die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) und Portugals (CDU) sowie mit Abstrichen die holländischen Sozialisten (SP).